Zwischen Hochbegabung und Wahnsinn

Eine kritische Betrachtung einer umstrittenen Messgrösse aus historischer Perspektive

Wie auch die Visionen über die Künstlichen Intelligenz bei den meisten Menschen Unbehagen auslösen, erfährt auch der Bezeichnung der «Menschlichen Intelligenz» zunehmend Kritik. Insbesondere die Zusammenfassung vieler geistiger Leistungen in einem Begriff, die Messung durch standardisierte Tests sowie die Darstellung der Ergebnisse in Form eines «IQ», lassen die Ergebnisse eindimensional erscheinen.

Das Konstrukt Intelligenz wurde durch die Neurobiologie, die Intelligenzforschung und die Kognitionswissenschaften definiert und ausführlich beschrieben. Unser Hirn ist ein geschlossenes System, welches man nicht mit den Eigenschaften seiner Komponenten erklären kann. Der Hirnforscher Marvin Minsky hat in seinem Buch Mentopolis das Hirn mit einer Behörde verglichen, in der es die verschiedensten Abteilungen, Leitungen, Strukturen und Dienstwege gibt. Die Abteilungen selbst sind geistlos. Erst ihre Kooperation führt zur Emergenz des Bewusstseins. Gefühle wiederum sorgen für das Weiterfunktionieren der Bürokratie, wenn es zu Konflikten zwischen den Abteilungen kommen sollte. Und das Selbst ist nicht etwa ein übergeordneter göttlicher Kontrolleur, sondern lediglich die Stabilisierungsabteilung von Mentopolis, die verhindert, dass die Bürokratie ihre Struktur zu schnell ändert. Ohne sie wäre der Geist nicht in der Lage, Ziele gegen Widerstände und unangenehme Erfahrungen durchzuhalten.

Den grössten Teil seiner Aktivitäten widmet das Hirn, welches nur zum geringen Teil mit der direkten Wahrnehmung der Aussenreize beschäftigt ist, der Wahrnehmung seiner selbst. Es nimmt die Aussenreize nur als Irritation wahr, die erst durch die interne Weiterverarbeitung ein identifizierbares Profil ergeben. Verbreitet ist die Annahme, dass Intelligenz etwas mit einem guten Gedächtnis zu tun hat. Tatsächlich wurde festgestellt, dass Wunderkinder über ein ausserordentlich entwickeltes Gedächtnis verfügen: Das gilt für Schachspieler, Mathematiker und Komponisten gleichermassen.

Der italienische Arzt und Kriminologe Cesare Lombroso hat in seinem Buch Genie und Irrsinn, 1864, die These vom Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn aufgestellt. Seiner These traten die Amerikaner gegenüber, die erst einmal versuchten, die Faktoren zu ermitteln, aus denen sich die Intelligenz zusammensetzte, um sie dann zu messen. Das Ergebnis war der IQ, der so genannte Intelligenzquotient. Er geht von einem Durchschnittswert von 100 aus; darunter wohnt die schlichtere, darüber die intelligentere Hälfte der Gesellschaft. Mit einem Wert von 140 gilt man als hochbegabt. Der Intelligenzquotient wird ermittelt, indem die Testperson verschiedene Typen von Aufgaben zu erfüllen hat: Begriffe ordnen, mathematische Zahlenreihen vervollständigen, geometrische Figuren zusammensetzen, Listen von Wörtern auswendig lernen, Körper in der Vorstellung umdrehen.

Der IQ ist eine Prozentangabe nach der Stanford-Binet-Skala, die von einer Anzahl standardisierter Tests abgeleitet ist, mit dem Ziel, die intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen zu messen, vor allem im logisch-analytischen Bereich (der so genannten akademischen Intelligenz). Der Harvard-Psychologe und ehemalige IQ-Test-Anwender Edmund Boring definierte die dabei gemessene Intelligenz so: «Intelligenz als eine messbare Fähigkeit muss zunächst als die Fähigkeit definiert werden, einen Intelligenztest gut zu bestehen.» . Intelligenz ist also das, was die Tests testen. Diese Definition sollte man sich im Umgang mit Intelligenz-Daten ständig vor Augen führen. Da heutige Intelligenztests auf der Grundlage des von Lewis M. Terman, Psychologe an der Universität Stanford, 1917 verfeinerten Binet-Tests basieren, spricht man anstelle von Intelligenz-Tests von Stanford-Binet-Tests. Ein Stanford-Binet-Test kann als Indiz hoher geistiger Fähigkeiten gelten. Eine Nähe der Hochbegabung zum Wahnsinn ist schon in den 20er-Jahren empirisch widerlegt worden. Die Wissenschaftler hatten erkannt, dass der IQ nicht die vollkommene Wahrheit über unsere Intelligenz widerspiegelt.

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